Ein später Bericht
Anfang 2015 ist der Migrationsbericht 2013 erschienen, also mit einem Abstand von einem Jahr. Wie man hört, sind die langwierigen Abstimmungen mit den Bundesministerien dafür verantwortlich, dass das Bundesamt den Bericht so spät herausbringt. Die Zeitverzögerung hatte einen kuriosen Effekt: viele Medien bis hin zur Tagesschau berichteten im Januar 2015 noch einmal über die Zahlen für 2013, identisch mit den Meldungen, die sie schon im Sommer 2014 gebracht hatten, als das Statistische Bundesamt die Zahlen zum ersten Mal veröffentlicht hatte. Wieder wurde berichtet, dass Deutschland im Jahr 2013 das zweitwichtigste Einwanderungsland weltweit war, nach den USA. Inzwischen wissen wir, dass das auch für 2014 gilt.
Einwanderung aus der EU
Wie schon im Vorjahr zeigten die Netto-Zahlen für die Migration (Einwanderung und Auswanderung also gegeneinander gerechnet) 2013 eine Re-Europäisierung der Einwanderung, allerdings nur in den Grenzen der EU. Auch 2013 war Polen Hauptherkunftsland, gefolgt von Rumänien. An die dritte Stelle schob sich 2013 Italien. Bulgarien liegt statt an dritter nur noch an fünfter Stelle, noch hinter Ungarn und Spanien. Diese Entwicklung hängt damit zusammen, dass Rumänen sehr guten Erfolg auf dem deutschen Arbeitsmarkt haben, Bulgaren dagegen weniger. Seit Anfang 2014 ist Rumänien, wie der Bericht kurz anmerkt, sogar zum wichtigsten Herkunftsland für Deutschland geworden. Hier zeigt sich ein Umlenkungseffekt: Rumänen migrieren auf Grund der schwierigen Wirtschaftslage inzwischen weniger nach Italien und Spanien, wo inzwischen jeweils eine Million ihrer Landsleute leben. Deutschland wird für sie ein wichtiges Zielland. Für die Forschung sind diese Entwicklungen eine Herausforderung, es gilt noch viel mehr zu differenzieren und nach neuen Zusammenhängen zu fragen.
Auswanderung in die Türkei und in die Schweiz
Mit der steigenden Einwanderung aus den östlichen und südlichen EU-Staaten kontrastiert die Bilanz mit der Türkei. Der Auswanderungsüberschuss Richtung Türkei ist noch einmal angestiegen. Mit einer Netto-Auswanderung von 7.254 Menschen war die Türkei für Deutschland 2013 das zweitwichtigste Auswanderungsland - nach der Schweiz mit 9.034 Menschen. Die Auswanderer waren zu zwei Dritteln türkische, zu einem Drittel deutsche Staatsangehörige.
Bei den Migrationszahlen liegt die Türkei nur noch an elfter Stelle, nur ein Prozent der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland bewegt sich über die Landesgrenzen. Die aus der Türkei stammende Bevölkerung hat sich in Deutschland niedergelassen – im Unterschied zu den Migranten aus den EU-Ländern, bei denen die Fluktuationsraten noch sehr hoch sind. Auch der türkische Familiennachzug ist weiter zurückgegangen und es ist abzusehen, dass er vom Familiennachzug aus Indien überholt werden wird. 2013 hatte mehr als die Hälfte der Menschen mit türkischem Migrationshintergrund in Deutschland keine eigene Migrationserfahrung mehr, die Mehrheit ist in Deutschland geboren. Sarrazin sollte sich also neuen Themen zuwenden, und die Transnationalismus-Theoretiker sollten Deutschtürken nicht mehr als Menschen on the move charakterisieren.
Reichtum an Informationen
All diese interessanten Entwicklungen und vieles mehr kann man exakt nachvollziehen, wenn man die vielen Tabellen und Schaubilder studiert. So zeigt sich im Lebensbaum der Gesamtbevölkerung deutlich der Effekt der Ius-Soli-Regelung für Kinder seit 2000: mehr Geburten von Kindern mit deutscher Staatsangehörigkeit, weniger mit nur ausländischer Staatsangehörigkeit. Gleichwohl gab es Ende 2013 1.230.800 in Deutschland geborene „Ausländer“, also Menschen, die zwar von ihrer Geburt her Inländer sind und hier leben, aber nur einen ausländischen Pass haben. Etwas mehr Mut zur Herausstellung und Kommentierung solcher Trends wäre dem Bericht zu wünschen gewesen. Vergleicht man die Publikationen des Schweizerischen Bundesamtes, so enthalten sie mehr Analyse.
Internationale Trends
Für das Gesamtverständnis der Migrationsentwicklungen in der heutigen Welt besonders instruktiv sind einige Tabellen zum europäischen Vergleich, die Daten dafür stammen alle von Eurostat. In fast allen Ländern gibt es mehr Auswanderung als Einwanderung von Staatsangehörigen. Portugal ist Spitzenreiter mit einer 5,3 mal höheren Auswanderung von eigenen Staatsangehörigen, es folgen Estland und Slowenien. Aber auch in Großbritannien wandern 1,8 Mal mehr eigene Staatsangehörige aus als ein, in der Schweiz 1,3, in Deutschland 1,2 Mal mehr. Offene Grenzen und Globalisierung bringen Durchmischung und die Chance, da zu leben, wo man will, wo man gut verdient oder wo einen die Liebe hinführt. Im öffentlichen Diskurs werden diese Entwicklungen wenig zur Kenntnis genommen und immer nur die Einwanderung in den Vordergrund gerückt.
Extrem unterschiedlich ist auch der Anteil der jeweils eigenen Staatsangehörigen an der Migration. In Rumänien beträgt er 99,4 %, das spiegelt die Situation eines lange abgeschlossenen Landes, in dem in den letzten Jahren eine hohe Auswanderung in Gang gekommen ist. In Zypern – dem anderen Extrem – sind nur 5,8 % der Migranten eigene Staatsbürger. Es wandern also Expatriates, philippinische Arbeitskräfte, sonnenhungrige Rentner, Steuerflüchtlinge, wirkliche Flüchtlinge und viele Andere. Deutschland liegt mit 42,2 % eigener Staatsbürger in der Mitte, Frankreich bei 65,4 % - ein Spiegelbild der hohen aktuellen Arbeitslosigkeit dort.
Was fehlt: Der Bearbeitungsstau bei den Asylanträgen
Bei aller Präzision und Akribie der Darstellung auch bei den Asylzahlen vermisst man in dem Bericht ein Eingehen auf das Problem, das Deutschland gerade jetzt stark beschäftigt: den Stau bei der Bearbeitung der Asylanträge und die Folgeprobleme bei der Unterbringung. Die Große Koalition hatte im Herbst 2013 im Koalitionsvertrag angekündigt:
„Wir werden das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge personell ausreichend ausstatten, damit ... zügige und rechtsstaatliche Asylverfahren gewährleistet sind.“ „Die Verfahrensdauer bis zum Erstentscheid soll drei Monate nicht übersteigen.“
Das Bundesinnenministerium hat in der Tat die Zahl der „Entscheider“ erhöht, aber zu spät und zu wenig. Der Bericht geht nicht darauf ein, dass die Zahl der unbearbeiteten Anträge sich im Berichtsjahr um 46.041 erhöht hat, so dass es Ende 2013 95.743 unbearbeitete Asylanträge gab. Inzwischen hat sich der Bearbeitungsstau noch einmal vergrößert: auf 178.250 unerledigte Anträge Ende Januar 2015. Eurostat nennt noch höhere Zahlen, weil nach den EU-Kriterien auch die ebenfalls steigende Zahl der unentschiedenen Gerichtsverfahren mitzurechnen ist. Der Bearbeitungsstau ist seit 2008 schrittweise aufgebaut worden. Im Januar 2015 hat das Bundesamt verlautbart, die Bearbeitungszeit der Anträge sei im Dezember 2014 von acht auf fünf Monate gesunken. Das ist statistisch korrekt, beruht aber darauf, dass die Anträge von Syrern und Serben, Kosovaren und anderen Südosteuropäern „priorisiert“ wurden, mit dem Effekt, dass die übrigen Anträge noch länger liegen bleiben, im Durchschnitt 10 Monate bei Asylbewerbern aus Eritrea, 17 Monate bei Afghanen, 18 Monate bei Pakistanis. Jeden Monat wächst die Zahl der unbearbeiteten Anträge.
Es bleibt noch einiges zu tun
Viele Monate oder gar mehrere Jahre in überfüllten Unterkünften auf eine erste Entscheidung warten zu müssen, ist vergeudete Lebenszeit für die Asylbewerber. Es sind auch vergeudete Ressourcen für das Aufnahmeland. Viel moralische Energie aus der Zivilgesellschaft, von Kirchengemeinden, Vereinen und spontanen Initiativen von Bürgern, wird verbraucht, um mit den auf Grund des Bearbeitungsstaus geschaffenen Problemen fertig zu werden. Sie könnte besser eingesetzt werden, um den Flüchtlingen bei der endgültigen Integration zu helfen.
Das Bundesamt besteht in seiner heutigen Form inzwischen zehn Jahre. Es leistet vielfach vorzügliche Arbeit. Es hat auch die Zahl der Asylentscheidungen erhöht. Es wird aber, wie auch der Bericht für 2013 zeigt, immer noch behindert von einer im Bundesinnenministerium verfestigten Grundhaltung, die Integration nur für einige Gruppen will, Flüchtlinge aber abschrecken möchte und dem Bundesamt nicht ausreichend Personal zur Verfügung stellt. Unter diesen Versäumnissen haben Länder und Kommunen zu leiden, die nach dem Gesetz für die Unterbringung der Asylbewerber zuständig sind. Der Bericht zeigt Deutschland noch nicht in allen Bereichen als „tolles Integrationsland“, wie die Bundeskanzlerin es sich gewünscht hat. Es bleibt noch einiges zu tun – analytisch ebenso wie in der Realität.